von Claudia Linker (Monnet)
Momentan schon. Mein Kirschbaum trägt wie verrückt. Allabendlich steige auf die Leiter und pflücke für meinen Mann und mich, was wir verzehren können. Dazu Him- und Stachelbeeren, sowie rote und schwarze Johannisbeeren. Aber auf die Leiter zu klettern und Äste heranzuziehen, ist der größere Spaß.
Mein Mann kann nicht mehr in Bäume klettern. Er ist froh, wenn sein Kreislauf ihm ein paar Schritte mit Berta erlaubt. Aber er genießt die Früchte. Wir genießen. Auch das ist unser Leben. Nicht nur Chemo und kein Ende in Sicht.
Ich bin hier zwar nur die Angehörige, aber Krankheit erfordert Pflege. Deshalb denke ich schon wieder einmal neu und ziemlich grundsätzlich über Change nach und das Leben an sich.
Eine der häufigsten Fragen, als ich in den 90ern in Deutschland Mutter wurde: Musst Du denn noch arbeiten? Mit mitleidigem Blick. Für eine halbe Französin eine sehr merkwürdige Frage. Vraiment très bizarre!
ABER: In Frankreich gab es damals schon ganz selbstverständlich überall und für alle ganztags Betreuung. Gratis. Davon träumt (West-)Deutschland heute noch. Da ich in Flensburg lebte und meine Kinder bekam, bin ich also Change gewöhnt. Vielleicht darf ich mir sogar einbilden, Change ein bisschen mitgestaltet zu haben / mitzugestalten.
Wieder bin ich in derselben Lage: Ich muss vielleicht nicht arbeiten. Wenn wir z. B. unser Zuhause verkaufen würden, aber dann gäb’s auch keine Kirschen mehr. Aber ich arbeite sehr, sehr gern. Und ich genieße das Leben, mit meinem Mann, in dem Leben, das uns jetzt bereitet ist.
Selbstbestimmung ist der Schlüssel. Dann ist gut Kirschen essen. Ich wende Thomas Gordons die dreiteilige (!) Ich-Botschaft, GFK und ein wenig Harvard-Modell auf mich selbst an: Wie stehe ich für meine Bedürfnisse ein?
Botschaft #1: Mein(e) Bedürfnis(se) sind …
- Da sein. Ich schenke meinem Mann und mir täglich Kirschen, denn jetzt sind sie reif.
- In Verbindung bleiben. Ich biete Freund:innen an, sich Kirschen bei mir zu pflücken.
- Meinen Beruf weiter ausüben. Abends nehme ich mir auf jeden Fall die Zeit, auf die Leiter zu klettern.
Botschaft #2: Positive Konsequenzen, wenn Bedürfnisse erfüllt werden, sind …
- gute Gespräche mit meinem Mann über Berufliches und Freude an den Kirschen.
- Über geschenkte Kirschen ergeben sich noch mehr gute Gespräche und noch mehr geteilte Freude.
- Auf der Leiter abends realisiere ich, wie schön das Leben ist – neben der Sorge – und wie glücklich mich mein Beruf macht.
Botschaft #3: Gute Gefühle, die damit verbunden sind …
- Wie beschreibe ich das Gefühl, das es auslöst, da oben in Balance zu bleiben, diese Farbenpracht aufzusaugen und spät abends im Bett noch zu merken, wie es nachleuchtet?
- Wie beschreibe ich das Gefühl, einem Coaching-Klienten gerade vor dem Kirschenpflücken geholfen zu haben, ebendiese drei Botschaften für sich zu formulieren? Ja, einem Mann. Sehr erfolgreich. Hohe Führungsverantwortung. Und doch sagt er oft nicht Nein. Achtete seine eigenen Grenzen bislang nicht. Übt das jetzt.
Was ist Dein / Ihr Bedürfnis?
P.S.: Kirschbäume sind erst seit dem 16. Jahrhundert in Mitteleuropa verbreitet. Im Mittelalter waren Kirschen kostbare, seltene Früchte. Menschen, die sich ungebeten daran bedienen wollten, wurden verjagt, indem man sie mit Kirschkernen bespuckte. Ich persönlich ziehe ja Kirschkern-Weitspucken vor. Herzliche Einladung. Sagte ich es schon? Die Kirschen sind gerade reif.